Mit der Lancierung der Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) ist der Kondomgebrauch nicht länger mehr die einzige effektive Option zur HIV-Prävention. Dies gilt auch für die besonders stark betroffene Gruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), bei denen in den letzten Jahren eine vermehrte Nutzung von weiteren, weniger effektiven Strategien der Risikoreduktion beobachtet worden ist. Vorgehensweisen zum Schutz vor HIV sind von der Einwilligung und Mitwirkung der Partner abhängig und ihre Nutzung muss verhandelt werden. Die Verhandlungsstrategien zum Kondomgebrauch von MSM sind kaum untersucht; darüber hinaus sind mögliche Veränderungen der Verhandlungsstrategien angesichts von PrEP noch völlig unbekannt.
Wir verfügen über keine Erkenntnisse dazu, wie sich Verhandlungen abspielen, wenn MSM, die weiterhin auf Kondome als persönliche Schutzstrategie vor HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten (STI) setzen, auf Gelegenheitspartner treffen, die zum Schutz vor einer Infektion auf andere Vorgehensweisen setzen. Welche Formen und welche Komplexität die Verhandlungen von MSM um den Schutz vor HIV und anderen STI beim Sex mit Gelegenheitspartnern angenommen haben und wie diese nun durch PrEP herausgefordert bzw. weiterentwickelt werden, scheint uns bislang ungenügend bearbeitet worden zu sein.
Vor diesem Hintergrund soll dieses Projekt einen Beitrag dazu leisten, diese Wissenslücke hinsichtlich der Verhandlungen von MSM zum Schutz vor einer Infektion mit HIV oder einer anderen sexuell übertragbaren Krankheit in der Ära von PrEP zu schliessen. Das neu generierte Wissen soll seinerseits dazu beitragen, Angebote zur Prävention von HIV und anderen STI bei MSM zu aktualisieren und auf die empirisch auffindbaren Vorgehensweisen zu ihrem Schutz, ihren Erfahrungen, neuen Herausforderungen und Unsicherheiten der Zielgruppe abzustimmen. Ziel der Studie war es somit zu erfassen, wie HIV-negative MSM in der Schweiz beim Sex mit Gelegenheitspartnern den Schutz vor HIV und anderen STI verhandeln und durchsetzen können.
Unsere Fragen lauteten:
Das Projekt folgte einem qualitativen Design. Beim Interview standen die Erlebnisse, Erfahrungen, Sichtweisen und das konkrete Handeln der Teilnehmer im Zentrum. Das Gespräch wurde in drei Blöcke gegliedert: 1. Ein offenes Interview, 2. ein Virtual Reality (VR) Game, in dem die Teilnehmer in eine lebensnahe Szene mit einem Mann eintauchten und 3. ein abschliessender Befragungsteil. Das Gespräch wurde mit einem Audiogerät aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert. Bei der Transkription wurden alle Informationen, die einen Rückschluss auf den Teilnehmer ermöglichen, anonymisiert. Nach der Transkription wurden die Audioaufnahmen gelöscht.
Im ersten Schritt des zweiten Blocks wurde der Teilnehmer mittels eines VR-Games , das eigens zu diesem Zweck entwickelt wurde, in einen fiktiven Interaktionsablauf mit einem Gelegenheitspartner involviert. Die Teilnehmer setzten hierzu ein VR-Headset auf, über welches das VR-Game abgespielt wurde. Im VR-Game wurden sie mit realitätsnahen Situationen konfrontiert, bei welchen sie dazu aufgefordert waren, Entscheidungen zu treffen. Mit den Entscheidungen, die der Teilnehmer traf, wurde der weitere Verlauf des VR-Games (die Reaktion des Gelegenheitspartners) beeinflusst. Das VR-Game umfasste zwei Verhandlungsszenarien: a) Chat über eine Dating-App und b) face-to-face Kommunikation mit dem Gelegenheitspartner in dessen Wohnzimmer.
Das eingesetzte VR-Game wurde von Expert*innen des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Hochschule für Wirtschaft FHNW entwickelt, die das Potenzial von VR in Erhebungssituationen erkannt haben und sich mit der Entwicklung von VR in diesem Kontext befassen. Um für MSM relevante und realistische Situationen und Interaktionsoptionen programmieren zu können, wurden die entsprechenden Inhalte explorierend in Befragungen von fünf MSM mit unterschiedlichen Identitäten erhoben, die sich verschiedenen Szenen zugehörig definieren und Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten von mann-männlichem Sex haben. Im Weiteren wurden vier Expert*innen aus Beratungs- bzw. Gesundheitsorganisationen für MSM und Forschende mit Erfahrung mit Untersuchungen von MSM in eine Echogruppe eingebunden.
Befragt wurde eine schrittweise zusammengestellte Stichprobe von 29 unterschiedlichen HIV-negativen MSM. Das Mindestalter für die Teilnahme lag bei 20 Jahren. Die Erhebung wurde in der deutschsprachigen Schweiz durchgeführt. Im Anschluss an die Datensammlung wurden die Verhandlungsprozesse in einer qualitativen Datenanalyse rekonstruiert.
Die Studie leistet einen Beitrag, eine national wie auch international zu verzeichnende Lücke in der sozialwissenschaftlichen präventionsorientierten HIV-Forschung zu füllen. Mit der Nutzung eines immersiven VR-Game für die Datenerhebung ging das Vorhaben methodisch neuartige Wege. Die Forschenden erprobten einen Weg, die in der HIV-Forschung seit Jahrzehnten diskutierte Limitation ansatzweise zu überwinden, dass Sex interaktiv verläuft, diese Interaktion aber nicht eingefangen werden kann. Mit dem VR-Game wurde versucht, zumindest ausschnitthaft nähere Einblicke in die Interaktion, hier in die Verhandlungen von Schutz, zu erhalten. Die Ergebnisse der Erprobung und Reflexion dieses methodischen Vorgehens können zur methodologischen Diskussion in der HIV-Forschung aber auch generell in den Sozialwissenschaften beitragen.
Die Ergebnisse bieten eine Grundlage für eine differenzierte, verschiedene Kontexte einbeziehende Benennung der Bedingungen für Schutz von MSM in Zeiten von PrEP. Damit vermitteln sie Ansatzpunkte für eine nuancierte zielgruppenspezifische Prävention und tragen zur Aktualisierung und Anpassung der Angebote der Präventionspraxis bei. Die Ergebnisse werden hierzu in die bestehende Kooperation mit der Präventionspraxis eingebracht und in praxisorientierten Zeitschriften publiziert. Die Ergebnisse werden auch in Form von Konferenzbeiträgen und Artikel in internationalen Fachzeitschriften für die scientific community veröffentlicht.